Die gläserne Klinik
Es ist alles nur geliehen
Als Notfall in der Tierklinik erfahre ich endlich, warum es Klimt so schlecht geht
„Es ist alles nur geliehen hier auf dieser (schönen) Welt.“ Wie ein düsteres Mantra geht mir der Satz aus einem Gedicht von Heinz Schenk so ganz mechanisch immer wieder durch den Kopf, als ich an diesem Abend mit Klimt mehr als zwei Stunden im Kofferraum meines Autos vor der Tierklinik sitze und warte bis wir an der Reihe sind. Er hat zuvor nach Übelkeit und Erbrechen einen Krampfanfall gehabt. Sein bisher erster und einziger. Die wohl längsten 15 Sekunden meines Lebens. Spätestens jetzt war klar, ich will endlich wissen, warum mein Hund alle paar Wochen ganz schlimm Bauchweh und Übelkeit oft gepaart mit Erbrechen und Durchfall hat. Mein Haustierarzt hat nie etwas im Blut gefunden und keine weitere Diagnostik empfohlen. Doch statt etlichen Rechnungen für eine Symptombehandlung ohne Diagnose, will ich nun wissen, was los ist. Und so sitzen wir im Auto vor der Klinik als Notfall und warten – immer das so wahre Gedudel im Kopf. „Es ist alles nur geliehen, hier auf dieser (schönen) Welt.“
Wir wollen nicht im Wartezimmer sitzen. Denn Klimt regen andere Hunde auf und ich bin gegen Katzen allergisch – also nicht, dass ich sie nicht mag, sondern wirklich, mit brennenden Augen, Niesen, Atemnot und dem ganzen Programm. So sitzen wir ab 19.45 Uhr im Auto.
Im Wartezimmer mit Glasfront sitzt Waldi, ein brauner Kurzhaardackel – wer hätte es erwartet. Außerdem steht und läuft dort eine Dame herum, die auf ihren Australian Shephard wartet. Der hat sich beim Spaziergang auf unerklärliche Weise eine große Wunde am Oberschenkel zugezogen, wie sie jedem, der es hören will oder nicht, erzählt. Auf ihrem Shirt prangt der Schriftzug „Aussie Mom“. Kann man tragen… oder auch nicht. Und dann sitzt dort noch eine fünfköpfige Familie mit Katze. Vater, Mutter, ein etwa 11-jähriger Junge, ein etwa 4-jähriges Mädchen und ein Neugeborenes. Letzteres liegt abwechselnd im Arm der Mutter oder des Vaters, während der andere Elternteil draußen raucht.
Der deutsche Junge darf weinen!
20.30 Uhr: Die Familie wird ins Behandlungszimmer gerufen. Vom Wagen aus kann ich direkt reinglotzen. Mache ich auch. Habe ja sonst nichts zu tun. Ich sehe den Jungen und den Vater direkt an. Die Mutter mit Baby steht mit dem Rücken zu mir, das Mädchen zupft an ihrem T-Shirt herum. Mittig liegt die sedierte Katze auf dem Behandlungstisch. Der Tierarzt im Profil erklärt etwas. Der Junge verzerrt sein Gesicht als hätte er Schmerzen. Mein Bauch verzerrt sich auch. Ich kenne den Ausdruck. So muss auch ich schon zweimal ausgesehen haben. Bully, Louni… Heinz Schenk tippt mir auf die Schulter: „Es ist alles nur geliehen.“ Der Junge weint, versucht, es zu unterdrücken. „Hoffentlich hat er nie den bescheuerten Satz ‚der deutsche Junge weint nicht‘ zuhören bekommen“, denke ich irgendwie. Wenn dein bester Freund stirbt, darf jeder weinen. Der Tierarzt setzt das Stetoskop an. Auch das kenne ich. „Er sieht nach, ob es vorbei ist“, rieselt es in mein Bewusstsein. Es ist vorbei. Der Junge weint nun hemmungslos und bekommt ein Taschentuch von der Arzthelferin. Eine Umarmung bekommt er von niemandem. „Halt die Fresse, Schenk“, denke ich und versuche, nicht zu heulen.
21.30 Uhr: Wir sind dran und sitzen schon im Behandlungszimmer, als es plötzlich hektisch wird und uns der Arzt, der kurz vorher die Katze eingeschläfert hat, wieder verlässt. Jetzt bin ich auf der anderen Seite und kann zum Fenster raus sehen. Ein Bus hat gehalten. Im Kofferraum liegt apathisch ein großer goldener Hund, vielleicht ein Picardie. Sie eilen mit einer Trage hinaus, heben das teilnahmslose Tier darauf und rollen es in die Klinik, vorbei an dem Zimmer, in dem wir warten. Auch diese Tür ist gläsern. Ich sehe den Hund hecheln. Sein Bauch ist groß. „Magendrehung!“, schießt es mir durch den Kopf. Ich sollte Recht behalten, wie mir die Dame am Empfang später verrät. Oft habe ich gern Recht. Heute nicht.
22.15 Uhr: Der Tierarzt ist zurück bei uns. Fiebermessen. Abhören. Abtasten. Klimt erhält eine Spritze gegen die Übelkeit und die Schmerzen. Ihm wird Blut abgenommen. In 30 Minuten sei das Ergebnis da. Wir warten wieder draußen. Beim Rausgehen kommt mir die Halterin des Picardie mit Leine und Geschirr entgegen. Er hat es nicht geschafft. „Alles nur geliehen“, schreit mich Schenk an. Ich unterdrücke zum zweiten Mal das Heulen und muss noch einmal an den Jungen denken.
Diagnose: Entzündete Bauchspeicheldrüse
22.45 Uhr: Wieder im Behandlungszimmer. Wir erhalten nach etlichen Monaten endlich eine Diagnose. Das Blutbild ist diesmal eindeutig. Die Bauchspeicheldrüse ist stark entzündet, wohl chronisch. Wenn ich zurückdenke hat es vermutlich schon 2020 angefangen, ohne dass es jemand eindeutig diagnostiziert hat. Klimt bekommt noch eine Spritze: Antibiotikum. Wir müssen nun Diät halten. Der Anfall? Eine Verschiebung der Elektrolyte? Starke Schmerzen? Das Herz? Denn das läuft auch nicht mehr rund, wird mir erzählt. Die konkrete Ursache für das Krampfen bleibt unklar.
Klimt ist alt. 13 Jahre.
23 Uhr: Wir fahren mit schwerem Herzen und einem Knoten im Bauch nach Hause.
Am Ende kann man nichts und niemanden mitnehmen.
„Freut euch an den kleinen Dingen, nicht nur an Besitz und Geld!
Es ist ALLES nur geliehen, hier auf dieser schönen Welt!“
Angesichts der Rechnung über fast 560 Euro muss ich nun doch bitter schmunzeln über das Gedicht.
Drück dich ganz fest 😘
AntwortenLöschen